Nachdem wir die typischen Rollen im Medical Affairs kennengelernt haben, vertiefen wir nun das Verständnis für die zentralen Aufgaben und Funktionen, die Medical Affairs Professionals in der deutschen Pharmaindustrie tagtäglich ausüben. Diese Kernfunktionen sind entscheidend für den wissenschaftlichen Dialog, die strategische Ausrichtung des Unternehmens und letztlich für den sicheren und effektiven Einsatz von Medikamenten zum Wohle der Patienten. Sie spiegeln die Brückenfunktion von Medical Affairs zwischen Wissenschaft, Medizin und dem Unternehmen wider.
1. Wissenschaftliche Expertise & Dateninterpretation
Das Fundament jeder Tätigkeit in Medical Affairs ist eine tiefgreifende wissenschaftliche Expertise im jeweiligen Therapiegebiet und zu den Produkten des Unternehmens. Medical Affairs Professionals müssen in der Lage sein, komplexe wissenschaftliche und klinische Daten aus Studien (z.B. Zulassungsstudien, Investigator Initiated Trials (IITs), nicht-interventionelle Studien (NIS), Real-World Evidence (RWE) Studien) zu verstehen, kritisch zu bewerten und zu interpretieren. Dies beinhaltet ein Verständnis für Studiendesigns, statistische Methoden und die klinische Relevanz von Ergebnissen. Dieses Wissen ist notwendig, um fundierte Gespräche mit medizinischen Experten führen, interne Stakeholder beraten und wissenschaftliche Materialien erstellen zu können. Kontinuierliche Weiterbildung und das Verfolgen aktueller wissenschaftlicher Entwicklungen sind daher unerlässlich.
2. Medizinisch-wissenschaftliche Kommunikation
Eine der Hauptaufgaben von Medical Affairs ist die Kommunikation wissenschaftlicher Informationen. Dies umfasst die Aufbereitung komplexer Daten in verständliche Formate und deren Vermittlung an unterschiedliche Zielgruppen. Dazu gehören Ärzte, Apotheker, medizinisches Fachpersonal, aber auch interne Kollegen aus Marketing, Vertrieb oder Market Access. Die Kommunikation erfolgt über verschiedene Kanäle: persönliche Gespräche (insbesondere durch MSLs), Präsentationen auf Kongressen oder Fortbildungsveranstaltungen, Erstellung von wissenschaftlichen Publikationen (Abstracts, Poster, Manuskripte), Entwicklung von Schulungsmaterialien oder die Beantwortung medizinisch-wissenschaftlicher Anfragen. Die Kommunikation muss stets objektiv, ausgewogen, transparent und nicht-werblich sein.
3. Evidenzgenerierung & -verbreitung
Medical Affairs spielt eine zentrale Rolle bei der Planung und Unterstützung der Generierung neuer wissenschaftlicher Evidenz, insbesondere nach der Zulassung eines Medikaments. Dies kann die Identifikation von Wissenslücken (Medical Gaps), die Unterstützung von durch Prüfärzte initiierten Studien (Investigator Initiated Trials, IITs) oder die Konzeption und Durchführung von nicht-interventionellen Studien (NIS) umfassen, um Daten zur Anwendung des Medikaments im klinischen Alltag zu gewinnen (Real-World Evidence). Medical Affairs ist zudem maßgeblich an der Entwicklung und Umsetzung von Publikationsstrategien beteiligt, um sicherzustellen, dass relevante Studienergebnisse zeitnah und angemessen in Fachjournalen oder auf Kongressen veröffentlicht werden.
4. Stakeholder Management (insb. KOL Management)
Der Aufbau und die Pflege von Beziehungen zu externen Stakeholdern, insbesondere zu Key Opinion Leaders (KOLs), ist eine Kernfunktion, die vor allem von MSLs wahrgenommen wird, aber auch für Medical Advisors relevant ist. Es geht darum, ein Netzwerk von führenden Experten aufzubauen, einen regelmäßigen wissenschaftlichen Austausch zu pflegen, deren Meinungen und Erfahrungen (Insights) zu verstehen und diese Erkenntnisse intern zu nutzen, um medizinische Strategien und Aktivitäten zu optimieren. Neben KOLs können auch andere Ärzte, Fachgesellschaften, Patientenorganisationen und zunehmend auch Payer (Kostenträger) wichtige Stakeholder für Medical Affairs sein.
5. Strategischer Input für das Unternehmen
Medical Affairs bringt die medizinisch-wissenschaftliche Perspektive in die strategischen Entscheidungen des Unternehmens ein. Durch das tiefe Verständnis des Therapiegebiets, der Produkte, der Wettbewerbslandschaft und der Bedürfnisse der medizinischen Gemeinschaft können Medical Affairs Professionals wertvollen Input für die Produktentwicklung, die klinische Forschung, Marketing- und Vertriebsstrategien sowie für Market-Access-Aktivitäten liefern. Sie helfen dabei, sicherzustellen, dass die Unternehmensstrategie wissenschaftlich fundiert ist und den medizinischen Bedürfnissen entspricht.
6. Sicherstellung von Compliance & Ethik
In der stark regulierten Pharmaindustrie ist die Einhaltung aller relevanten Gesetze, Verordnungen und Kodizes von größter Bedeutung. Medical Affairs trägt eine besondere Verantwortung dafür, dass alle medizinisch-wissenschaftlichen Aktivitäten und Kommunikationen den rechtlichen Rahmenbedingungen (z.B. Heilmittelwerbegesetz – HWG, Arzneimittelgesetz – AMG) und den ethischen Standards der Industrie (z.B. FSA-Kodex Fachkreise in Deutschland) entsprechen. Dies beinhaltet die sorgfältige Prüfung von Materialien auf wissenschaftliche Korrektheit und Werbefreiheit sowie die Sicherstellung, dass Interaktionen mit Fachkreisen transparent und angemessen erfolgen.
7. Interne Schulungen und Support
Medical Affairs ist oft verantwortlich für die Schulung interner Mitarbeiter, insbesondere der Vertriebs- und Marketingteams, zu medizinisch-wissenschaftlichen Themen. Sie stellen sicher, dass diese Teams über das notwendige Wissen zu Krankheitsbildern, Therapien und den Produkten des Unternehmens verfügen, um ihre Aufgaben kompetent und regelkonform ausführen zu können. Medical Affairs entwickelt hierfür Schulungsmaterialien und führt Trainings durch.
8. Beitrag zur Pharmakovigilanz (Arzneimittelsicherheit)
Obwohl es oft eine eigene Pharmakovigilanz-Abteilung gibt, spielt Medical Affairs eine unterstützende Rolle bei der Arzneimittelsicherheit. Durch den engen Kontakt zu Ärzten und die Auseinandersetzung mit Studiendaten können Medical Affairs Professionals (insbesondere MSLs) wichtige Informationen über potenzielle Nebenwirkungen oder Sicherheitsbedenken aus der Praxis erhalten und diese gemäß den internen Prozessen an die Pharmakovigilanz weiterleiten. Sie tragen somit zur kontinuierlichen Überwachung der Sicherheit der Unternehmensprodukte bei.
Diese Kernfunktionen zeigen die Breite und Tiefe der Aufgaben im Medical Affairs. Sie erfordern eine einzigartige Kombination aus wissenschaftlicher Expertise, Kommunikationsgeschick, strategischem Denken und einem ausgeprägten Verantwortungsbewusstsein. Im nächsten Kapitel erfahren Sie, wie Sie den Einstieg in dieses spannende Feld schaffen können.